Total Normal?!

Einige Gedanken zum Verhältnis von „neuer deutscher Normalität” und Antisemitismus

Vorbemerkung 2006:

 

Die Fußball-Weltmeisterschaft ist in vollem Gange und überall sieht man deutsche Fahnen. Derweil wird der Sozialstaat fleißig abgebaut von der vereinigten Sozialräuber AG und die Proteste gegen die „größte Steuererhöhung seit 1945“ halten sich in Grenzen. Als Ergebnis der Beratungen über die Gesundheits-‚Reform’ ist auch nichts Gutes zu erwarten – es sei denn für die Interessen des Kapitals.

 

Die bürgerliche Presse jubiliert und erzeugt eine Stimmung gegen alle, die noch wagen, etwa auf die fatale Tradition des „Liedes der Deutschen“ hinzuweisen. Die FAZ (17.6.06) höhnt – und man meint die dahinterstehende Drohung zu hören: „Wenn es allerdings gelänge, auch Leute wie Günter Grass oder verdruckste Funktionäre von der Lehrergewerkschaft in diese Gesellschaft zu integrieren, wäre das schon bemerkenswert.“ Und der ehemalige Kapitalherr Köhler verkündet mit einem etwas steifen Grinsen: „Ich würde es noch nicht bewerten, als daß jetzt nun ein Fahnenrausch durchs Land geht, aber doch als ein Hinweis, daß sich das Land weiter normalisiert, daß man jetzt unverkrampfter auf seine eigene Nationalfahne zeigt und sich mit ihr schmückt.“ (FAZ, 19.6.06)

 

Man will wieder eine ‚normale’ Nation sein. Und die, die sich nicht fügen, werden zwangsintegriert oder verhöhnt. Dabei ist diese ‚Normalität’ der Wahnsinn der herrschenden Verhältnisse.


Aus diesem Anlaß ist untenstehend ein Artikel dokumentiert, den ich 2002 aus Anlaß der zentralen Veranstaltung der SPD zum 8. Mai schrieb. Er hat leider bis jetzt nichts von seiner Aktualität verloren – im Gegenteil…

 

 

 

„Der Kleinbürger hat drei echte Leidenschaften:

Bier, Klatsch und Antisemitismus.”

Kurt Tucholsky

 

„Man muß allerdings zugestehen, daß der Einfluß der zionistischen Lobby auch sehr groß ist: Sie hat den größten Teil der Medienmacht in der Welt inne und kann jede auch noch so bedeutende Persönlichkeit ‚klein’ kriegen. Denken Sie nur an Präsident Clinton und die Monika-Lewinsky-Affäre. Vor dieser Macht haben die Menschen in Deutschland verständlicherweise Angst.”

Jamal Karsli, Junge Freiheit, 3. Mai 2002.

 

 

„Natürlich ist Deutschland ein normales Land”, meinte Gerhard Schröder (der schon 1954 im Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft sein Empfinden für die nationale „Schicksalsgemeinschaft” entdeckt haben will) am 8. Mai 2002 in einem Gespräch mit dem Schriftsteller Martin Walser. Dieser hatte zuvor von seinem „Geschichtsgefühl” und der Nation fabuliert sowie die Ursachen des Zweiten Weltkrieges nicht etwa auf den Militarismus, die „Volk-ohne-Raum”-Politik und den Rassenwahn der Nationalsozialisten zurückgeführt, sondern auf den Vertrag von Versailles (FAZ, 10.5.02). Es war auch Martin Walser, der 1998 „den Juden” vorgeworfen hatte, ihre Vergangenheit „zu gegenwärtigen Zwecken” zu instrumentalisieren.

 

Wenn jemand es so oft nötig hat, seine Normalität zu betonen, so kann er nicht ganz normal sein. Und wenn der Bundeskanzler, der in der Debatte um die Zwangsarbeiterentschädigung betont hat, daß „der deutsche Kanzler [...] die deutsche Industrie schützen” muß, dann noch – wie Gerhard Schröder zu Beginn seiner Amtszeit – betont: „Das Deutschland, das wir repräsentieren, wird unbefangen sein, in einem guten Sinne vielleicht sogar deutscher sein.” – Dann liegt die Vermutung nahe, daß bei ihm die Normalität die Pathologie darstellt und daß es doch einmal angebracht ist, sich mit dieser scheinbaren Normalität auseinanderzusetzen.

 

 

Möllemann, Karsli, Walser und der gegenwärtige Antisemitismus

 

Im „Antisemitismusstreit” äußerte sich ein Antisemitismus, der, frei von Geschichte, wieder glaubt, „die Juden” kritisieren zu müssen, ihnen stigmatisiernde Beschreibungen zuweist, und sie de facto als dieser Gesellschaft äußerlich definiert. Indem Möllemann den Abgeordneten Jamal Karsli in seinen Äußerungen unterstützte, behauptete, „Herr Scharon und in Deutschland ein Herr Friedman mit seiner intoleranten und gehässigen Art” würden selbst Antisemitismus hervorbringen (ZDF-Interview, Mai 2002) und in Deutschland sei Kritik an der israelischen Regierung – von wem auch immer – verboten, spielte er selbst mit antisemitischen Ressentiments. Doch der öffentliche Protest dagegen hielt sich in Grenzen. Entschieden traten nur der „Zentralrat der Juden in Deutschland” und einige antifaschistische Gruppierungen auf. Nicht nur von Teilen der bürgerlichen Presse, selbst von sich als sozialistisch bezeichnenden Zeitungen wie dem „Neuen Deutschland” erhielten Karsli, Möllemann, Walser und Co. Unterstützung, indem das Vorgehen gegen Karsli als „Rufmord” (ND, 27.5.02) und die Kritik an Walser als Versuch, ihn – wofür auch immer – zum „Sündenbock” zu machen (ND, 30.5.02), diffamiert wurde. Doch Möllemann und Walser sind nur die Spitze des Eisberges.

 

Eine neue Studie der Universität Leipzig kommt zu dem Ergebnis, daß „in den vergangenen vier Jahren” Antisemitismus in Westdeutschland stark zugenommen habe: „Dem Satz ‚Auch heute noch ist der Einfluß der Juden zu groß’ stimmten 31 Prozent der befragten Westdeutschen zu, bei einer identischen Erhebung im Jahre 1998 waren es 14 Prozent. In Ostdeutschland ist die Zustimmung zu der Aussage von 12 auf 14 Prozent gestiegen. Die Zustimmung unter den Westdeutschen zu der Behauptung ‚Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns’ stieg von 9 auf 22 Prozent.” (FAZ, 5.9.02; siehe auch und hier) Diese Zahlen machen deutlich, daß 57 Jahre nach Ende der NS-Ära der Antisemitismus noch immer einen nicht unwesentlichen Bestandteil unserer Gesellschaft und somit eine Gefahr darstellt.

 

 

Bemerkungen zur Geschichte des Antisemitismus

 

Um den gegenwärtigen Antisemitismus besser verstehen zu können, ist an dieser Stelle ein Blick auf die Entstehung des „modernen” Antisemitismus aus der christlich-religiös begründeten Judenfeindschaft notwendig. Dabei soll die enge Verknüpfung mit der Entstehung des deutschen Nationalstaates aufgezeigt werden, die für die Frage nach dem Zusammenhang von „neuer deutscher Normalität” und Antisemitismus von Nutzen sein kann.

 

Die Stellung der Juden war eng verknüpft mit der ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung der jeweiligen Gesellschaften. So bildeten im „Heiligen Römischen Reich” Juden eine von der christlichen Mehrheit abgespaltene Bevölkerungsgruppe. Sie waren von der Produktion materieller Güter ausgeschlossen und erniedrigenden Sondergesetzen – besonders im Abgabenbereich – ausgesetzt. Einzig im handelnden Gewerbe und im Finanzsektor sich zu betätigen war ihnen gestattet. So waren sie im besten Fall als „Hoffaktoren” bei Fürsten oder Königen angestellt oder machten ihre Geschäfte z.B. im Viehhandel. Die Regel waren aber gesellschaftlich nicht hoch angesehene Berufe, wie die Betätigung als Pfandleiher, die Christen aufgrund des Zinsverbotes nicht gestattet waren. Da sie wegen hoher Abgaben gezwungen waren, hohe Zinsen zu nehmen, beschimpfte man sie als „Wucherer”. Besonders in wirtschaftlichen Krisensituationen mußten sie aufgrund ihrer separierten Situation als Blitzableiter herhalten. Dabei hielten religiöse Beschuldigungen oder einfache Schauermärchen als Vorwand her, wie z.B., die Juden seien Jesusmörder oder – noch aus Zeiten der Pest rührend – Brunnenvergifter.

 

Im 19. Jahrhundert war die Geschichte „der Juden” verbunden mit der Entstehung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und des Nationalstaats: Die Aufklärung brachte eine weitgehende Säkularisierung der meisten gesellschaftlichen Bereiche. Religiöse Kriterien zur Einteilung der Gesellschaft wurden durch ökonomische ersetzt. Da gottgegebene Hierarchien nicht mehr zu halten waren, wurde die Gleichheit aller Einwohner vor dem Gesetz postuliert. Das bedeutete, daß auch die religiös begründete Ausgrenzung eines Bevölkerungsteils nicht mehr opportun war. Die Frage der „Judenemanzipation” trat daher zum Ende des 18. Jahrhunderts auf den Plan, wobei diese in Deutschland – anders als später im revolutionären Frankreich – nicht als gemeinsames Projekt begriffen wurde, sondern als obrigkeitsstaatliche Aufgabe, als erzieherische Maßnahme. Es sollte – so der Titel eines 1781 erschienenen Buches des Kriegsrats und preußischen Beamten Christian Wilhelm Dohm – um „die bürgerliche Verbesserung der Juden” gehen.

 

Erst die Französische Revolution, deren Bestandteil die politische Gleichheit aller Bürger war, also auch die Gleichstellung der Bürger jüdischen Glaubens zum Ziel hatte, brachte mit ihren Ideen, die anfangs auch in Deutschland vereinzelt glühende Anhänger fanden, Fortschritte in der Frage der „Judenemanzipation”, wobei diese Fortschritte in Deutschland mit den Preußischen Reformen nur sehr moderat ausfielen. Schließlich wurde mit der Besetzung linksrheinischer Gebiete durch Napoleon die volle rechtliche Gleichstellung, die Bestandteil des „Code Napoleon” war, in vielen Regionen Deutschlands realisiert.

 

Doch der aufkeimende deutsche Nationalismus, der sich gegen die Besetzung durch Napoleon wandte und somit auch gegen die Ideen der Französischen Revolution, lehnte eine Gleichstellung der Bevölkerungsanteile jüdischen Glaubens ab. Vielmehr ging man häufig aus von einer „jüdischen” anthropologischen Konstante, die es unmöglich mache, den Juden Bürgerrechte zuzuerkennen. Das Idealbild „nationaler Denker” wie Ernst Moritz Arndt und Turnvater Jahn war das einer Einigung der deutschen Nation als biologisch begründeter Blutsgemeinschaft. Zum integralen Bestandteil des neuen Nationalgefühls wurde das Christentum erklärt, wobei die traditionelle religiöse Judenfeindschaft durch eine biologisch und wertmäßig abgestufte Hierarchie von Menschenrassen ersetzt wurde.

 

Bis auf das preußische Rheinland, in dem bis 1900 Napoleons Gesetzbuch in Kraft blieb, wurden mit der Restauration – eingeleitet durch den Wiener Kongreß 1814/15 – alle Reformen, die Juden bürgerliche Rechte zuerkannten, weitgehend rückgängig gemacht. Mit der Restauration, der Konstitution des Deutschen Bundes auf den Grundlagen anachronistischer Herrschaftsformen und der gescheiterten 48er-Revolution wurde ein Nationalismus gefördert, der nicht wie in Frankreich die Nation, verstanden als Gemeinschaft von (politisch gleichen) Staatsbürgern, zur Grundlage hatte, sondern ausging von der Nation als metaphysischer, quasi natürlicher „Schicksalsgemeinschaft” des „deutschen Volkes”.

 

Mit dem Zurückgehen hinter die Ideen der Aufklärung, dem Postulat des Vorrangs des Gefühls vor dem Verstand und einer organizistisch-biologistischen Betrachtung der historischen Entwicklung und der Gesellschaft wurde der Boden bereitet für einen Begriff vom „deutschen Volk”, dessen Zugehörigkeitsgefühl sich konstituierte über den völkischen Begriff der „natürlichen Abstammung” und die Definition über das Andere. Nach Außen war das Andere die Französische Revolution und die Aufklärung, nach Innen die aus der Gesellschaft hinausdefinierten Teile, in erster Linie „die Juden”. Religiöse Vorurteile aus der Bibel verbanden sich mit biologistischen Zuschreibungen – Juden als „Ungeziefer”– und physischen Diffamierungen. Hinzu kam die Identifizierung „der Juden” mit dem Bereich der Zirkulationssphäre (Börse etc.) und der Vorwurf der Heimatlosigkeit und Internationalität sowie die Identifikation mit den Ideen der Aufklärung.

 

So gingen Nationalismus und Antisemitismus eine enge Allianz ein, die später im Nationalsozialismus ihre konsequente Fortführung in der Vernichtung der „nichtarischen Fremdkörper” fand. Auch heute ist Antisemitismus eng verknüpft mit einer mystifizierenden und naturalisierenden Auffassung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

 

 

Antisemitismus als psychosoziales Konstrukt

 

Antisemitismus in der „modernen” Erscheinungsform hat als eine (aber keineswegs als einzige) Ursache ein mangelndes Verständnis der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Kapitalismus wird in der herrschenden Ideologie als quasi-natürliche, überhistorische Konstante, als „Ende der Geschichte”, betrachtet. Herrschaft wird über ökonomische Zwänge, die als naturgegeben und damit unveränderlich dargestellt werden, wahrgenommen. Als abstrakt und als einziger Vermittler kapitalistischer Mechanismen (Geld als „Wurzel allen Übels”) erscheint das Geld. Als stofflich und natürlich angesehen werden der Produktionsprozeß und die dort produzierte Ware. D.h. der Kapitalismus wird nur noch wahrgenommen als abstrakter Tauschprozeß, vermittelt durch das Abstrakte in seiner konkreten Form, dem Geld. Die gesellschaftlichen Verhältnisse jedoch, die er hervorbringt, werden als konkret und gegeben wahrgenommen und sind nicht Objekt der Kritik. Nicht gesehen wird, „daß die wirkliche Überwindung des Abstrakten [...] die geschichtlich-praktische Aufhebung des Gegensatzes selbst sowie jeder seiner Seiten einschließt” (M. Postone).

 

Daß gerade „Juden” mit den „Schattenseiten” der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, mit dem Geldfetisch identifiziert wurden und daß teilweise dies heute immer noch geschieht („Das reiche Finanzjudentum, das die amerikanische Politik bestimmt” etc.), liegt zum einen in der geschichtlichen Entwicklung vom christlichen Antijudaismus zum modernen Antisemitismus – ihrer stigmatisierten Position (als „Hofjude”, „Wucherer” etc.) und der Identifikation mit dem Finanzsektor – begründet. Zum anderen wird der Judenhaß gekoppelt an den zentralen Mechanismus der bürgerlichen Gesellschaft. Der Kapitalismus stellt sich als abstrakt, seiner konkreten Bestandteile entledigt, dar. Nicht das Wesen der kapitalistischen Verhältnisse wird wahrgenommen, sondern nur seine Auswirkungen und äußeren Erscheinungsformen – Konkurrenz, Entfremdung und Profitdominanz. Juden werden mit dem Kapitalismus zur Personifikation und Vergegenständlichung der abstrakten Herrschaft des Kapitals gleichgesetzt, da das Kapital als „selbstverwertender Wert” (K. Marx) nicht faßbar erscheint.

 

Auf diese Weise können Aggressionen im Kapitalismus, die durch Entfremdungserfahrungen, Entindividualisierung und Konkurrenzdruck entstehen, kompensiert werden, ohne das gesamte System als Form bürgerlicher Herrschaft in Frage zu stellen und die Wut an die Herrschenden weiterzugeben. In einem Akt der Externalisierung werden diese Affekte, die gegen die Herrschaft und die eigene affirmierende Lebensweise gerichtet sind, nach außen gelenkt. Sie finden ihre Vergegenständlichung in Form einer „pathischen Projektion” (Adorno/Horkheimer) – in „den Juden”, die als abstrakte Macht konstruiert werden. So können sie als Ursache von (als negativ erfahrenen) geschichtlichen und gesellschaftlichen Prozessen hingestellt werden („jüdische bzw. zionistische Lobby”).

 

Dieses psychosoziale Konstrukt des Antisemitismus als „Welterklärungsmodell” gewinnt besonders in sozialen und ökonomischen Krisenzeiten oder Zeiten, in denen das nationale „Geschichtsgefühl” („wir sind wieder wer”) stimuliert wird und gleichzeitig diese geschichtlichen Mythen die geschichtliche und gesellschaftliche Realität vergessen machen bzw. verschleiern oder naturalisieren, an Virulenz.

 

 

„Neue deutsche Normalität”

 

Zur „neuen deutschen Normalität” gehört, wieder unbefangen für „deutsche Interessen” Krieg führen zu können. Der erste deutsche Angriffskrieg nach 1945 konnte und mußte auch ehedem kritischeren Teilen der Bevölkerung damit schmackhaft gemacht werden, es gehe diesmal wirklich um Menschenrechte und eine Wiederholung der Geschichte müsse verhindert werden. Kein Wort davon, daß es auch diesmal unter Bruch nahezu sämtlicher nationaler und internationaler Regelwerke vonstatten ging und tausende Menschenleben unter der Zivilbevölkerung – sogenannte Kollateralschäden – kostete. Mit dem „Kosovo-Krieg” hatte auch der letzte Korrespondent von taz bis FAZ gelernt, daß nicht nur die Deutschen Völkermörder sind und die Maxime jedes guten Deutschen, der rückwirkend die deutsche Geschichte glattbügeln möchte, ab jetzt die sein muß, die der deutsche Außenminister Joseph Fischer verkündet hat: „Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg! Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz!”

 

Seit dem 11. September, an dem „alles anders wurde”, hat der deutsche Bundeskanzler das „Ende der Nachkriegspolitik” ausgerufen. Ungeniert lassen sich jetzt wieder zur Durchsetzung geopolitischer Interessen militärische Einsätze in der ganzen Welt führen, natürlich mit einer anderen ideologischen Figur verschleiert – dem „Krieg gegen den Terror”. Und wenn einmal ein geplanter Krieg „deutschen Interessen” – die auch immer die Interessen der deutschen Wirtschaft sind – zuwiderläuft, so spielt man nach außen etwas Pazifismus vor und kann damit (Welch günstige Fügung!) auch noch eine Wahl gewinnen, da dem Kurzzeitgedächtnis entfallen scheint, daß deutsche Truppen ihren Frieden noch immer in zehn Ländern verbreiten und der Angriff auf Afghanistan schon der zweite Rot-Grüne Angriffskrieg war. Daß die „Alternative” Stoiber – Schutzherr des sudetendeutschen Revanchismus – für eine rassistische Einwanderungspolitik und eine sozialdarwinistische Sozialpolitik steht, macht die Lage in keiner Weise beruhigender. Vielmehr erscheint die These plausibler, daß in Deutschland „Normalität”, nämlich imperialistische Interessenpolitik, Nationalismus und Patriotismus sowie die Verschärfung der kapitalistischen Konkurrenzverhältnisse, immer mit einem Anwachsen von Rassismus und Antisemitismus einhergeht.

 

 

Stereotype Denkweisen in „der deutschen Linken”

 

Doch auch in der „deutschen Linken” – die es in der Bedeutung und Einheitlichkeit, die dieser Begriff suggerieren will, nicht gibt und auch nie gegeben hat, denn „die” Linke ist entweder internationalistisch oder sie ist nicht –, bedienen sich Teile in der Kritik der Politik der amerikanischen Regierung allzu oft stereotyper Deutungsmuster. Gefährlich wird diese Kritik dann, wenn sie sich nicht mehr auf eine Analyse der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse, also auf die Dominanz des Kapitalverhältnisses, des Dranges nach Profitmaximierung und Kapitalexpansion sowie der daraus resultierenden imperialistischen Praxis und Konkurrenz der kapitalistischen Länder um Ressourcen und geostrategische Dominanz, gründet. Dann also, wenn sie die Formen, in denen diese Dinge materialisiert sind und durch die sie konstruiert sind, also Staaten und Nationen, als das einzige ausschlaggebende kritisiert und damit anthropologisiert.

 

Im Falle von Amerika wird somit nicht mehr die herrschende Politik als kapitalistische und imperialistische angegriffen, sondern als dem amerikanischen Wesen eigen naturalisiert. Wenn dieser Begriff nicht schon zu überstrapaziert wäre, könnte man hier von Antiamerikanismus reden. Und in der „uneigeschränkten Solidarität” einiger Linker mit „den Palästinensern” und der undifferenzierten und einseitigen Kritik der Politik der israelischen Regierung wird mitunter das Bedürfnis deutlich, „die Juden” endlich als Täter zu betrachten und so in der Gleichsetzung mit nationalsozialistischen Verbrechen die Vergangenheit vergessen und zu einer unbeschwerten deutschen Identität finden zu können. Oft sagt diese Kritik, die häufig nicht oder schwer von rechter Kritik zu unterscheiden ist und mit Unkenntnis glänzt, mehr über die Verhältnisse in Deutschland und den Zustand der „deutschen Linken” aus. Ausgestattet mit solchen Denkmustern, geraten einem zu leicht die Verhältnisse im eigenen Land aus den Augen und man findet sich auf der Seite der herrschenden Klasse wieder. Die vermeintlich linke Position wird zu einer nationalen.

 

 

Gegen Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus

 

Nationalismus sowie Antisemitismus und anderen Formen des Rassismus gilt es genauso entschieden zu widersprechen, wie dem unbändigen Verlangen, wieder Krieg zu führen, weil wir wieder normal sind und deshalb anderen „Völkern” zeigen können, was Menschenrechte bedeuten bzw. weil dort ein zweites Auschwitz zu verhindern sei (J. Fischer). Doch dazu ist es notwendig, sich ein umfassendes und kritisches Bild der eigenen Geschichte zu machen und auch die eigene Position in der Gesellschaft zu reflektieren. Die Erkenntnis des Erfordernisses der Humanisierung menschlicher Beziehungen, die Erkenntnis, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht unveränderbar und natürlich sind und daß die Menschen Subjekte ihres Geschichtsprozesses sein können, sollte hierbei von immensem Vorteil sein.

 

 

Literatur (Auswahl): Theodor W. Adorno, Max Horkheimer: Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung, in: dies., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 2002. Wolfgang Benz (Hrsg.): Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils, München 1995. Detlev Claussen: Vom Judenhaß zum Antisemitismus. Einleitungsessay, in: Vom Judenhaß zum Antisemitismus. Materialien einer verleugneten Geschichte, hrsg. v. dems., Darmstadt 1987 (Sammlung Luchterhand, 677). Otto Fenichel: Elemente einer psychoanalytischen Theorie des Antisemitismus, in: ders.: Aufsätze, Bd. II, hrsg. v. Klaus Laermann, Frankfurt a. M. 1985. Walter Grab: Der deutsche Weg der Judenemanzipation. 1789-1938, München 1991. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, in: MEW 1, Berlin 51970. Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch, in: Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt, hrsg. v. Michael Werz, Frankfurt a. M. 1995. Reinhard Rürup: Judenemanzipation und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, in: Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, hrsg. v. Wolfgang Benz; Werner Bergmann, Freiburg i. Br. 1997.

 

 

Lorenz Gösta Beutin, Oktober 2002.