Der Mensch als Ware

Neoliberalismus als Strategie der Herrschaftsausübung

„Und was ist ein angemessenes Einkommen?

Angemessen ist doch, was ein Arbeitnehmer wirklich wert ist,

also wie hoch seine jeweilige Produktivität ist.”

Milton Friedman, in: SPIEGEL 44/2001.

 

Durch die gegenwärtigen Debatten, besonders der Linken, geistert ein Begriff, den mit Inhalt zu füllen nur zu häufig versäumt wird: der des Neoliberalismus. So steht er für „globalisierungskritische” Gruppen wie attac oder Linksruck für all das, was schlecht ist an der Globalisierung und stellt den Hauptgrund dar, warum die Marktwirtschaft zu reformieren sei. Personifiziert werden diese Negativerscheinungen meist in Form von Institutionen – IWF, Weltbank –, die als das Böse schlechthin dargestellt werden. Daß es bei dem Problem des Neoliberalismus gerade nicht um eine mystische Macht geht, nach deren Vernichtung/Abschaffung wir alle wieder in Frieden leben können, sondern daß es sich um ein umfassendes Konzept der Herrschaftsausübung handelt, wird leider allzu selten gesehen.

 

 

Entstehung des Neoliberalismus

 

In der Weltwirtschaftskrise 1929 geriet der Kapitalismus als durch Lohnarbeit Mehrwert produzierende Organisationsform durch überbordende Firmenpleiten und Massenarbeitslosigkeit in schwere Bedrängnis. Einen Ausweg schien der Keynesianismus mit seinem Versprechen von Vollbeschäftigung durch eine Verteilungspolitik zugunsten der Masseneinkommen zu versprechen, wie er mit Roosevelts „New Deal” in den USA realisiert wurde. Nach der von Keynes entwickelten sozioökonomischen Theorie hat der Staat das Recht, zum Zwecke allgemeiner Wohlfahrt regulierend in die wirtschaftlichen Abläufe einzugreifen und z.B. durch ein progressives Steuersystem eine relative Einkommens- und Gütergerechtigkeit zu gewährleisten. Diese besonders Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts hegemoniale Theorie setzt einen aktiven Staat und mündige Bürger voraus, die mit den Mitteln der Vernunft planend in wirtschaftliche Abläufe eingreifen.

 

Gegen diese Denkrichtung – und das implizierte Menschenbild – wendet sich die in den 20er Jahren entstandene wirtschaftswissenschaftliche Theorie des Neoliberalismus, die für den europäischen Raum besonders der Nobelpreisträger Friedrich A. Hayek als führender Kopf der sogenannten Freiburger Schule – in Opposition zu sozialistischer Planwirtschaft und keynesianischem Wohlfahrtsstaat – konsequent weiterentwickelt hat und die etwa seit den 80er Jahren in den führenden Industriestaaten zum herrschenden Paradigma geworden ist. Als ihren Vordenker betrachtet diese Lehre Adam Smith, der davon ausging, die „unsichtbare Hand” der freien Marktwirtschaft führe zwingend zur größtmöglichen Mehrung des „Wohlstands der Nationen”. Im Unterschied zu Smith geht die Schule des Neoliberalismus allerdings nicht von der Mehrung des allgemeinen Wohls als Ziel aus, sondern lediglich von dem Postulat, daß es jedem einzelnen möglich sein müsse, sich entsprechend seinen natürlichen Fähigkeiten am Markt zu betätigen. Beiden gemein ist die Vorstellung vom Staat als einer Art „Nachtwächter”, der dementsprechend nur darüber wachen müsse, daß alle Mechanismen des Marktes ohne Beschränkungen zur freien Entfaltung kommen können. Die absolute Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche mit marktwirtschaftlichen Mechanismen ist das dahinterstehende Ziel. Der Neoliberalismus war – in seiner durch sozialstaatliche Abfederungen gemilderten Version des Ordoliberalismus (nach dem Jahrbuch „Ordo” der Hauptvertreter des Neoliberalismus benannt) – der wirtschaftliche Gründungsgedanke der BRD.

 

 

Neoliberalismus, Mensch, Gesellschaft

 

Der Ideologie des Neoliberalismus liegt ein Menschenbild zugrunde, das nicht mehr den nach den Prinzipien von Vernunft und Humanismus handelnden Menschen in den Mittelpunkt stellt, sondern die Gesetze des Sozialdarwinismus auf das gesamte menschliche Zusammenleben überträgt. Die Organisation der Gesellschaft ist demnach an der „Knappheit der Güter” orientiert, um die zu konkurrieren Hauptbetätigungsfeld und -grund darstellen. Dabei werden nicht nur materielle Dinge zu „Gütern”, sondern auch geistige, psychische oder kulturelle, wie Mitmenschlichkeit, Gesundheit oder Bildung. Der gesamte Prozeß menschlicher Entwicklung wird als evolutionärer, einzig auf den „Kampf ums Dasein” ausgerichteter gesehen, an dessen Ende als einzig überlebensfähiges Prinzip im „natürlichen” Selektionsvorgang der Kapitalismus stände. So bekommt der Ausspruch „Der Mensch ist des Menschen Wolf” eine geradezu metaphysische Bedeutung.

 

Daß ein solches Bild vom Zusammenleben in der Gesellschaft sich nicht unbedingt verträgt mit demokratischen Gedanken in ihrer ursprünglichen Bedeutung, ist nicht erst auf den zweiten Blick erkennbar. Da die kapitalistische Verfaßtheit von Hayek entsprechend dem Evolutionsgedanken als „spontane Ordnung” betrachtet wird, gilt jede Abmilderung der Dynamik kapitalistischer Wertvergesellschaftung automatisch als Einschränkung der Freiheit. Freiheit wird in diesem Zusammenhang nicht korrespondierend zu den Postulaten der Aufklärung als Möglichkeit der Emanzipation des Menschen von „seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit” verstanden, sondern als Möglichkeit, seine Pläne auf Grundlage des Marktes zu verwirklichen. Ein „Egalitarismus” (Hayek) in Form der partizipativen Massendemokratie ist nach Hayek diesem Freiheitsbegriff zuwiderlaufend, da er „nicht die Ansicht der Mehrheit [repräsentiere], sondern das Ergebnis davon [sei], daß es in einer unbeschränkten Demokratie notwendig ist, die Unterstützung auch der Schlechtesten zu gewinnen.“ Deshalb müßten demokratische Institutionen reglementiert werden, da sonst die Gefahr einer „totalitären Demokratie“ oder sogar einer „plebiszitären Diktatur“ bestehe.

 

Es ist in diesem Kontext nicht sehr verwunderlich, daß sich auch Mitglieder der Neuen Rechten positiv auf Konzepte des Neoliberalismus beziehen, da auch faschistischen Ideologien der Drang, sich einem Ausleseprozeß zu unterwerfen – bzw. andere dazu zu zwingen, sich diesem zu unterwerfen – nicht fremd ist. So überträgt Hayek das Prinzip der Auslese nicht nur auf das Verhältnis der Individuen innerhalb eines Staatsgefüges, sondern im Sinne des „gesellschaftlichen Evolutionsprozesses” auch auf das Verhältnis der „Völker”: „Gegen die Überbevölkerung gibt es nur die eine Bremse, nämlich daß sich nur die Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst ernähren können.” Wer jedoch versuche, diesen quasi schicksalhaften Prozeß zu kontrollieren und die gesellschaftlichen Kräfte, genauso wie die Kräfte der Natur zu beherrschen, müsse sich darüber im klaren sein, daß „dieser Weg [...] nicht nur zum Totalitarismus, sondern auch zur Vernichtung unserer Kultur und mit Sicherheit zur Verhinderung des Fortschritts in der Zukunft” führe.

 

 

Aktuelle neoliberale Politik

 

Globalisierung, ursprünglich ein völkerrechtlicher Begriff aus dem Bereich der Politikwissenschaft, heute eine andere Bezeichnung für die Vernetzung und Internationalisierung des totalen Kapitalismus, ist der neue Gott unserer Zeit. Alle Einsparmaßnahmen und sozialen Repressionen werden mit diesem Zauberwort, von dem die große Mehrheit der Bevölkerung nur einen schwammigen Begriff hat, gerechtfertigt. Zu einem Biologismus gemacht/geworden, wird Globalisierung zu einem Phänomen stilisiert, das sich selbsttätig reproduziert und unaufhaltsam voranschreitet. Nicht gesehen werden soll, dass dieser konstruierte Prozeß bestimmten Interessen dient, die auf eine Gefügigmachung – und Verfügbarmachung – des Individuums und des Staates für einen zum höchsten Prinzip erklärten Markt abzielen. Das den Markt konstituierende Konkurrenzprinzip soll zunehmend kriegerisch ausgetragen werden. Nur wenig scheint die „neue” Globalisierung vom „alten” Imperialismus zu unterscheiden.

 

Schon kurz nach den Anschlägen des 11. September, nach dem alles anders sein sollte, hat der neoliberale amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman im Interview mit dem SPIEGEL erklärt, welches des Kaisers neue Kleider sind. Als Konsequenz aus den Ereignissen postuliert er: „Das Militär muß stark sein, nicht der Regierungsapparat. Die Aufgabe lautet, einen Krieg gut zu führen, und nicht, für die Luftfahrtindustrie oder Versicherungsunternehmen den Kopf hinzuhalten.” Also ungezügelter Kapitalismus und (Fähigkeit zur) Kriegführung statt keynesianischer Wohlfahrtsstaat und friedliche Koexistenz. Ähnlich sieht es in der Bundesrepublik Deutschland aus.

 

Hatte die rot-grüne Bundesregierung bei ihrem Regierungsantritt 1998 noch versprochen, den von der Kohl-Regierung betriebenen Abbau sozialer Standards rückgängig zu machen – und das auch im Bereich der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall eingehalten –, so sind diese Versprechen sehr bald in großer Einigkeit über Bord geworfen worden. Als „Reform” wird der Rückzug des Staates aus den sozialen Bereichen wie Bildung, Gesundheit, Rentenwesen gefeiert. Mit den Ideen der „Hartz-Kommission” erfährt dieses Konzept seine zynische Zuspitzung: Nicht mehr die dem Kapitalismus inhärierenden strukturellen Ursachen von Arbeitslosigkeit sollen bekämpft werden, sondern Arbeitslose werden selbst für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht und durch Restriktionen zur (faktischen) Schein-Selbständigkeit in „Ich-” bzw. „Familien-AGs” gezwungen. Betrieben wird eine den Kapitalverwertungsinteressen der deutschen Wirtschaft Rechnung tragende Politik, die sich am Wohl und Wehe des „Standortes Deutschland” orientiert und damit die aggressive, auf Kriegführung zur Wahrung von (meist wirtschaftlichen) Interessen ausgerichtete Außenpolitik komplettiert. Operiert wird außer mit den direkten „deutschen Interessen” mit dem Begriff der Globalisierung, die diese Politik notwendig mache.

 

Auch wenn nun angesichts eines drohenden Irak-Krieges sich die deutsche Bundesregierung einer pazifistischen Rhetorik bemächtigt hat, so sollte diese doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß deutsche Truppen immer noch in zehn Ländern über den Globus verteilt stationiert sind. Vielmehr wird am Begriff des „deutschen Weges” klar, daß sich der Saulus nicht zum Paulus gewandelt hat, sondern daß knallharte Wirtschaftsinteressen (i.e. deutsche Interessen) maßgeblich sind, welche die seit 1997 – besonders von Siemens – intensivierten Beziehungen zu irakischen Firmen und Politikern nicht gefährdet sehen wollen. So haben die Sozialdemokraten nicht zu ihren (scheinbaren) Wurzeln zurückgefunden. Auch nach der Bundestagswahl 2002 gilt und sollte nicht vergessen werden: „Nein, nein, die Sozialdemokraten waren immer ganz ordentliche Patrioten.” (Franz Müntefering, SPIEGEL 33/02)

 

Ebenso wie in der „großen” Politik äußert sich diese Tendenz zur neoliberalen Umstrukturierung unserer Gesellschaft auch im Bereich der Hochschulen. Mit der Forderung nach Autonomie der Universitäten wird deren Öffnung für marktwirtschaftliche Einflüsse betrieben, in denen die Studierenden, die sich durch Studiengebühren Bildung kaufen, nur noch als Kunden, nicht mehr als Mitglieder betrachtet werden. Ziel ist der Abbau demokratischer Mitbestimmungsrechte und die Führung der Universität durch ein Management, für das nicht (mehr) die Inhalte von Lehre und Forschung im Vordergrund stehen, sondern nur die reine Kostenabwägung im Dienste der Profitmaximierung und die Produktion einer „neuen, leistungswilligen” Elite, die dann – natürlich nach DIN genormt – die Nachwuchskräfte für die Führungsetagen dieser Republik stellen könnte.

 

Die (noch nicht vollkommene) Diktatur des Marktes macht sich in der antiautoritären Strömung der 68er-Bewegung generierte Begriffe zunutze: Das Individuum – nicht verstanden als Bedingung für „die freie Entwicklung aller” (Marx), sondern als vermasstes Einzelwesen – steht im Mittelpunkt. Befreit von allen, auch traditionellen Schranken, wird die Beliebigkeit zur Moral erhoben. Alles ist erlaubt, solange es „fun” bringt (und das seit dem 11. September um so mehr); Ideologien gibt es nicht mehr, da jedes Einzelwesen seine eigene Sicht der Realität hat. Politisches Handeln muß nach der Maxime des Pragmatismus auf den Einzelaspekt beschränkt bleiben; eine Einordnung in einen gesellschaftlichen Zusammenhang darf nicht stattfinden und wird als Totalitarismus diffamiert. Selbst die mittlerweile sehr eingeschränkte Sozialstaatlichkeit fällt demnach unter diese Kategorie: „Was als Soziale Marktwirtschaft begann, hat sich, ganz und gar nicht im Sinne des Erfinders, zu einem normativen Sozialismus ausgewachsen.” Die Idee der „soziale[n] Gerechtigkeit” werde zum „Leichentuch unserer Volkswirtschaft.” (FAZ, 19.3.02)

 

Ohne soziale Absicherung – so ist es das postulierte Ziel der Vertreter des Neoliberalismus – ist es Aufgabe des in andauernder Konkurrenz zu seinen Mitlebenden stehenden Einzelnen, sich möglichst verfügbar und dienstbar (am besten rund um die Uhr) dem Markt gegenüber zu positionieren. Damit wird der Waren konsumierende Mensch, der in sein „Humankapital” investiert, zu einer zu konsumierenden Ware, einer „human resource”, und darf sich als „Ich-AG” am Markt feilbieten – mit beschränkter Haftung.

 

 

Buchempfehlung: Herbert Schui/Stephanie Blankenburg: Neoliberalismus: Theorie, Gegner, Praxis, Hamburg 2002.

 

Lorenz Gösta Beutin, aus: Historix, Zeitschrift für HistorikerInnen, Nr 2/2002.