Mir wird ja angesichts meines Artikels im „Gegenwind“ häufig vorgeworfen, ich solle doch mal mit den Mahnwachenden reden, nicht über sie schreiben. Aber seit der ersten Mahnwache sind ich und einige andere Antifaschist_innen und Friedensbewegte im Gespräch mit den Leuten dort. Da ich ein Fan von Aufklärung und Emanzipation bin, geht es mir nicht um Pauschalisierungen oder Verdammungen. Mit einem der Organisatoren der Kieler Mahnwache habe ich versucht, näher ins Gespräch zu kommen, weil ich einiges in seiner Art zu argumentieren, nicht unsympathisch fand.
Am 15. Mai, nach der dritten Mahnwache (der mit unserer „subversiven Intervention“), habe ich ihm einen langen, ehrlichen Brief geschrieben. Die Folge? Auf der folgenden Mahnwache hat er mir wutentbrannt vorgeworfen, ich wolle mit ihm „Gehirnwäsche“ betreiben. Mir wurde verboten, noch einmal auf der Mahnwache zu reden (soviel zur Offenheit!). Wahlweise wurde mir vorgeworfen, ich sei von meiner Partei, vom CIA oder vom Verfassungsschutz gesteuert. Kein Gedanke daran, dass mein Engagement aus meiner antifaschistischen und friedensbewegten Position erwachsen könnte. Der Brief ist so also das Dokument eines gescheiterten Kommunikationsversuchs. Aber urteilt selbst, ob das nun tatsächlich „Gehirnwäsche“ ist.
[Auslassungen betreffen Angaben, die persönlicher Natur sein könnten; die Überschriften habe ich nachträglich, der besseren Lesbarkeit wegen, eingefügt.]
Hallo […],
ich habe es bei meiner Rede deutlich gemacht: Ich bin hier ungeschützt, Ihr kennt meinen Namen, was ich mache. […] Deshalb schreibe ich Dir hier, ganz offen, und hoffe, dass Du das respektierst. Auf einen Versuch will ich es jedenfalls ankommen lassen. […]
Seit dem letzten Montag ist einiges in Bewegung gekommen, was mich sehr erfreut. Sowohl bei der Kundgebung selbst sind nach meiner Rede einige aus Eurer Gruppe auf mich zugekommen, die meine Kritik teilen, als auch in der Zwischenzeit habe ich einige persönliche Nachrichten von Leuten bekommen, die nach unserem Auftritt und nach meiner Rede verunsichert sind und Rat suchen - ich weiß nicht, ob das bei Dir ähnlich ist?
Unser Versuch war der einer, ich nenne das jetzt mal so, subversiven Intervention. Es ging darum, uns von der Kundgebung abzugrenzen und gleichzeitig bei der Kundgebung, wie von Euch eingefordert, unsere Kritik zu äußern. Wenn ich uns sage, meine ich einen relativ zufällig zusammengewürfelten Haufen. Ich glaube aus der LINKEN waren letztes Mal nur zwei Leute da, ich und jemand anders. Untereinander haben wir auch viele Differenzen, einig sind wir uns nur in bestimmten, zentralen Kritikpunkten an den "Mahnwachen", und dass wir alle zu dieser Gesellschaft in einer Position linker Kritik stehen.
Bei der Aktion ging es uns aber auch darum, Euch diesmal ganz bewusst vor den Kopf zu stoßen, aber um damit überhaupt die Chance zu einem Nachdenken, neue Wege zu eröffnen. Wie ich an den persönlichen Gesprächen, an den Diskussionen in Eurem Forum, auf meiner FB-Seite und an den persönlichen Nachrichten sehe, ist es uns diesmal, anders als bei den beiden anderen Malen, tatsächlich gelungen. Und das macht mich froh. Auch dass Du mir in dieser Weise geschrieben hast, ist gut. Anders übrigens, als bei den ersten beiden Mahnwachen: Beim ersten Mal haben wir intensiv diskutiert, aber ohne Ergebnis, selbst die Links zu obskuren rechten Seiten wurden nicht aus der Einladung zur zweiten Mahnwache entfernt. Beim zweiten Mal war unser Agieren völlig wirkungslos, mit Eurem Appell, uns öffentlich zu äußern, habt Ihr uns in die Defensive gebracht, aus der wir erst an diesem Montag wieder herausgefunden haben.
Ich weiß nicht, wieviel Du von mir weißt. Ich gebe Dir ein, zwei Hinweise: Mein Mentor ist Lorenz Knorr, ein Zeitzeuge des deutschen Faschismus, Antifaschist und eine der ganz zentralen Figuren der deutschen Friedensbewegung. Mittlerweile in die Jahre gekommen, aber jemand, der ein gigantisches Wissen hat und immer, in jeder Situation kompromisslos für seine Überzeugungen eingestanden ist. Ein Mann, von dem ich viel gelernt habe. Ich habe übrigens ein Buch mit Texten von ihm herausgegeben: Sehr lesenswert, gerade auch für heute, weil es darin auch darum geht, wie es gerade zu Kriegen kommt, wie durch die Medienindustrie (der passende Begriff, wie ich finde) eine Stimmung in der Bevölkerung für den Krieg geschaffen wird, wie Friedenskräfte niedergehalten, diffamiert usw. werden. Ein zweiter Hinweis: Auf dem "Offenen Kanal Kiel" kommt am Freitag, 20 Uhr, und am Sonntag, 19 Uhr, die Kieler Runde. Da habe ich mit Thomas Stritzl, Bundestagsabgeordneter CDU, und Hans-Peter Bartels, Bundestagsabgeordneter der SPD, diskutiert über den Ukraine-Konflikt, TTIP und das Verhältnis USA-BRD. Ich weiß natürlich nicht, wie das geworden ist, aber ich kann Dir soviel verraten, dass ich der einzige von uns Dreien war, der zu all diesen Themen eine andere Meinung hatte, als die anderen beiden. [...] Die Talkrunde erscheint dann auch später in der Mediathek. Ich hoffe nur, ich war nicht allzu schlecht...
[…]
Und dann kommt auf der ersten Mahnwache, wo wir versucht haben, ins Gespräch zu kommen, jemand daher (warst Du es, ich erinnere ich mich nicht...) und sagt mir, wenn ich Nazis das Rederecht verweigern würde, sei ich selbst ein Nazi. Kannst Du Dir vorstellen, was das in mir auslöst? Kannst Du Dir vorstellen, was es in mir auslöst, wenn mir gesagt wird, es gäbe keinen Unterschied zwischen links und rechts? Nein, ich bin nicht darauf aus, andere Menschen zu bedrohen, ich komme nicht feige in der Nacht und werfe irgendwo Steine in Büros oder durch Fensterscheiben von Kinderzimmern. […]
Ich zeige […] immer noch offen mein Gesicht, ich diskutiere, äußere offen meine Kritik, ja polemisiere auch manchmal, überspitze, weil man anders manchmal offensichtlich Menschen nicht erreichen kann. Aber mein Maßstab als Linker (bewusst kleingeschrieben!) ist immer der Mensch, die Freiheit des Einzelnen, genauso wie mein Ziel eine andere Gesellschaft, eine Gesellschaft der Freien und Gleichen, eine Gesellschaft des Friedens ist.
Nazis stehen allen drei Zielen entgegen, in ihrem gesamten Tun. Ja, es stimmt, wie jemand schrieb, sie haben ja, im Gegensatz zu uns, nichts gesagt, nicht gestört am Montag. […] Nein, die offene Konfrontation suchen sie nicht, sie sind feige, versuchen, auf den Einzelnen zu gehen, ihn zu bedrohen, fertigzumachen, bis zum Tod. Du brauchst nicht nur in die Geschichte zu schauen (Weltkrieg, Auschwitz, Mölln, Solingen, NSU), es reicht auch die Gegenwart... Und ja, bei Nazis in der Gegenwart spielt der Verfassungsschutz eine üble Rolle, die Finanzierung durch unseren Staat ist unübersehbar. Aber ändert das etwas an der Bedrohung für den Einzelnen? Wenn Du betroffen bist, ist es Dir egal, ob der nun Nazi ist, weil er Nazi ist, oder Nazi ist, weil er Nazi ist UND vom Staat bezahlt wird.
Deshalb möchte ich mich gerade jetzt, in dieser Auseinandersetzung, schützen. Deshalb möchte ich, dass mein privates Profil privat bleibt. Ihr habt mein öffentliches, das reicht. […]
Dazu gehört auch eine Sache, auf die ich Dich aufmerksam machen möchte: Seid vorsichtig mit Bildern. Jemand hat in Eurer Gruppe ein Bild mit mir und mit dem einen Redner, der den Grünen im Arm hat, gepostet. Das ist illegal und ein Angriff auf meine Privatsphäre. Ich überlege, ob ich dagegen vorgehen soll. Und für das Bild, dass da gepostet wurde, gilt das gleiche, wie für alle anderen auch: Ihr müsst Euch versichern bei Nahaufnahmen von Personen, ob Ihr das Einverständnis dieser Personen habt! Das habt Ihr von mir nicht. Und: Es ist nicht nur der verantwortlich, der das Bild postet. Auch die Administratoren einer Gruppe sind mit dafür verantwortlich und im Zweifelsfall haftbar zu machen. Ihr haltet doch soviel vom Schutz der Privatsphäre, zumindest habt Ihr das gesagt?! Dann werdet doch Euren eigenen Ansprüchen gerecht!
[…] Aber ich kann Dir versichern: Selbst wenn ich Bilder veröffentlichen würde von der Mahnwache - ich würde die Gesichter unkenntlich machen, um die Leute zu schützen. Es geht mir nicht darum, Menschen anzugreifen, sondern Positionen. Ein letztes Beispiel: Ich hatte von der zweiten Mahnwache die Bemerkung erwähnt von den Rothschilds. Ich habe aber weder einen Namen, noch eine Beschreibung, noch ein Bild veröffentlicht. Und was kommt: Am Montag stellt sich jemand hin, und sagt, ich hätte ihn denunziert - und zeigt auf den, der das gesagt hat, diesen Jungen. Geht es noch? […]
Aber was ich auch gesagt habe am Montag, was ich gerne auch nächsten Montag wieder sage: Ich halte Euch nicht für Nazis, die, die sich dort versammeln - eben abgesehen von den paar Nazis, die tatsächlich ihre Anonymität und vielleicht auch Eure diesbezügliche Naivität nutzen für sich. Und vielleicht ist auch der eine oder andere darunter, der sich bis jetzt nicht zu erkennen ist, mag sein. Aber das Gros dort sind keine Nazis. Punkt.
Warum schreibe ich dennoch so etwas, worauf sich auch Dein Kommentar bezog, auf den ich jetzt so ausführlich und offen reagiere? Erst einmal, um eine Reaktion herauszufordern, um die Auseinandersetzung herauszufordern. Aber dann gibt es tatsächlich in Euren Reihen ein paar Leute, die nun ja, merkwürdig ticken. Damit meine ich nicht die, die irgendwie esoterisch unterwegs sind, die etwas erzählen von ewiger Liebe usw., auch wenn ich so eine Behauptung, wir sind jetzt keine Individuen mehr, wir sind jetzt ein Kollektiv, vollkommen falsch finde.
Nein, an drei zentralen Punkten setzt unsere Kritik an […]:
Diese Mahnwache sieht sich in der Gefolgschaft der "Mahnwachen für den Frieden", die Lars Mährholz in Berlin begründet hat. Lars Mährholz ist aber tatsächlich in diesen eso-faschistischen Netzwerken unterwegs. Bezieht sich u.a. positiv auf eine Seite, die sich "Der Beobachter" nennt. Das ist eine Anti-Antifa Seite (Titel: "Wir sehen euch"), wo antifaschistische Seiten gemeldet werden sollen. Er bezieht sich auch auf Seiten bzgl. der FED, in denen die "Protokolle der Weisen von Zion" als Produkte der Rothschilds angesehen werden. Sein Mitorganisator Schurig ist ebenso nicht faul, was die Relativierung des Holocaust und des Antisemitismus angeht. Wenn Du Bedarf daran hast, schicke ich Dir zu allen hier genannten Punkten die Dokumente zu, so dass Du das selbst überprüfen kannst. Bitte sag Bescheid. Die Verbindungen sind da sehr trüb bei Mährholz. Bspw. bezieht er sich auf Andreas Popp positiv, der aber zum einen bei diversen sehr ... merkwürdigen Kongressen auftritt, zum anderen sich explizit auf Gottfried Feder, einen Vordenker der NSDAP (Stichwort "Zinsknechtschaft") bezieht. Egal, was man kritisiert, man bezieht sich nicht positiv auf Nazis! Schon 1919 trat er der DAP (Vorläuferpartei) bei, war straffer Antisemit und u.a. befreundet mit Alfred Rosenberg. - Ich könnte jetzt lange argumentieren, warum sich allein auf Zinsen oder Geld zu beziehen, nichts ausrichtet, aber da würde ich heute nicht mehr mit fertig. Ganz kurz zusammengefasst: Es ändert nichts an den Beziehungen von Menschen zueinander und der Gier nach immer mehr Profit. Dafür muss die gesamte Gesellschaft sich ändern! Im schlimmsten Fall (!) führt so eine These in den Antisemitismus (NSDAP).
Das bringt mich zur zweiten These: Das Lied von Photon, dass Mährholz zur Hymne der Mahnwachen erklärt hat. Ja, es nimmt die Menschen mit, das stimmt. Aber wohin, das ist für mich immer die Frage! Nein, die FED ist nicht schuld an allem, und dann noch Bruce Lee und 2Pac da reinzuziehen, ist wirklich Blödsinn. Wenn man der These von Mährholz folgt: Die FED ist an allen Kriegen der letzten hundert Jahre schuld (die er bis jetzt nicht relativiert hat), dann relativiert man auch die Schuld bspw. am Zweiten Weltkrieg. Dann haben wir ja hier keine politische Verantwortung mehr.... Zudem ist es wirklich zumindest naiv, glauben zu wollen, dass man nur die FED abschafft, und alles ist wieder ok. So einfach ist die Welt nicht, es sind komplizierte Mechanismen. Deutschland ist sowohl Freund der USA, steht aber genauso in Konkurrenz zu den USA. Das kannst Du bspw. sehen, wenn Du das Verhalten der beiden Zentralbanken EZB und FED anschaust: Die FED hat auf Maßnahmen des Geldausgebens gesetzt, die EZB auf drastische Sozialkürzungen, auf die Austeritätspolitik, die ich für wesentlich schlimmer halte, als das was die USA und Obama in der Krise gemacht haben. Last but not least, wenn man nun den Namen Rothschild mit reinbringt, haben wir den Salat (siehe unten, dann kommt man von einer antisemitischen These in die nächste).
Ich sage nicht, dass jeder, der das macht, ein glühender Antisemit ist, ich kenne den Jungen, der das vorgetragen hat nicht. Aber: Es ist von der Struktur her antisemitisch, zumal die Rothschild wirklich gar nichts mit der FED zu tun haben. Ich empfehle Dir nochmal dazu das Video mit meinem ehemaligen Prof.[…]. Ihm geht es nicht um Verwirrung. Aber ihm geht es, wie mir, darum, deutlich zu machen: Es bringt uns nichts, solche Thesen zu entwickeln, die dann auch noch antisemitische Bezüge aufweisen. Es bringt uns nur etwas, uns wirklich weiterzubilden, uns schlau zu machen. Vielleicht sehen wir dann, dass die Welt komplizierter ist, dass es auch möglich ist, dass BRD und USA Partner UND Rivalen sind, dass es an der israelischen Politik zwar eine Menge zu kritisieren gibt, dass es aber keinen Grund gibt, sie auf eine Stufe mit den Nazis zu stellen. Im Übrigen kommt Finzsch demnächst nach Kiel, für eine Veranstaltung zur FED, und wird sich der Diskussion stellen. Das ist dann keine Werbung für uns, sondern eine Einladung an Euch, zu der Veranstaltung zu kommen, Euch das anzuhören und überzeugen zu lassen.
Das sind die Reichsbürger. Ich mache es kurz: Ich finde deren Thesen einfach vollkommen wahnwitzig. Ich bin mir nicht sicher, wie sehr die in Eure Organisation eingebunden sind. Ich bin mir auch nicht sicher, inwieweit die harmlos sind, inwieweit nicht. Ich weiß, dass es bundesweit Strukturen der Reichsbürger gibt, die auch Kontakte in die rechte Szene unterhalten. Hier vor Ort, ich hatte grad mit einem Kontakt, wirken die auf den ersten Blick etwas harmloser, wobei man das nie wissen kann. Aber ich bitte Dich: Das Deutsche Reich in den Grenzen von 1914 fordern? Weißt Du, was das für diplomatische Verwicklungen geben würde? Dann wären davon Russland, Litauen, Polen, Frankreich, Tschechien usw. betroffen, die allesamt Gebiete an das Deutsche Reich abtreten müssten. Ob das nur friedlich ginge? Ich bin eher dafür, anstatt neue Grenzen zu schaffen, dass wir Grenzen überwinden, für globale Gerechtigkeit streiten. Und Du?
Und die fatalste Behauptung: Die Legitimität des Grundgesetzes in Frage zu stellen. Das ist so etwas von fatal, gerade gegenwärtig. Was steht denn im Grundgesetz? Die Grundrechte! Die Menschenwürde! Der Schutz der Privatsphäre! Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums! Das Sozialstaatsprinzip! Die Möglichkeit von Sozialisierungen! Das Verbot von NS-Nachfolgeorganisationen! Das Verbot von Angriffskriegen! usw. usf. Und wer stellt das denn in Frage mit Hartz IV, mit Verfassungsschutz, mit Zwei-Klassen-Medizin, mit niedrigen Steuern für die Reichen, mit Privatisierungen, mit dem Führen von Kriegen in aller Welt? Unsere politische Klasse und die Wirtschaftslobby! Was könnte also in der momentanen Situation fataler sein, als das Grundgesetz in Frage zu stellen? Im Gegenteil, wir müssen uns auf den Boden des Grundgesetzes stellen, wir müssen deutlich machen, dass wir es gegen Angriffe verteidigen. Was meinst Du, was passieren würde, wenn die Reichsbürger sich durchsetzen bspw. und eine neue Verfassung (das Grundgesetz hat Verfassungsrang!) gemacht würde? Die Bürgerinnen und Bürger, siehe TTIP? Ich glaube wohl eher die stärksten Lobbygruppen...
Die Behauptung, die BRD sei eine Kolonie, wahlweise ein Verwaltungsgebiet der USA o.ä.: Abgesehen davon, dass ich Dir jedes dieser Argumente (kein Friedensvertrag und ähnlicher Blödsinn) widerlegen könnte, wofür ich jetzt keine Zeit mehr habe: Natürlich hat die BRD eigenständige Interessen, macht eine eigene Politik. Vieles schmeckt den USA nicht (vieles davon zurecht!), etwa die Austeritätspolitik, die die USA sehr scharf verurteilt haben (was wir ja auch tun). Die USA sind der Ansicht, das Kaputt-Sparen von Ländern, zulasten ihrer Gesundheits- und Sozialsysteme schadet auf Perspektive der Weltwirtschaft. Nicht so ganz falsch vielleicht? Und auch was Interventionspolitik angeht, gibt es unterschiedliche Interessen, das konnte man im Kosovo sehen (die USA waren anfangs gegen eine Zerschlagung Jugoslawiens, da war Genscher der Vorreiter), auch in Libyen (Westerwelle hat sich dort ja als Pazifist geriert), auch jetzt in der Ukraine gibt es unterschiedliche Interessen (so bremst Steinmeier den Wunsch der USA nach Wirtschaftssanktionen, Obama wiederum setzt sich gegen die Tea Party zur Wehr, die eine härtere Gangart erwarten). Mein Credo lautet da, orientiert an Karl Liebknecht: Der Feind steht im eigenen Land! Das heißt, wenn ich für globale Gerechtigkeit bin, bin ich erst einmal gegen die Bundesregierung, weil die Waffen exportiert, die Grenzen dicht macht, eine fatale Entwicklungspolitik befördert. Wenn ich für Frieden bin, bin ich gegen die Bundesregierung (und natürlich immer Interessenverbände usw. mitgedacht), usw. usf., alle Themen durch.
Mein Adressat ist erst einmal das eigene Land, die Interessengruppen hier, danach lasse ich den Blick schweifen, was sonst noch an Mist passiert in der Welt (Achja, dass die Lüge von der Klimalüge eine Lüge ist, brauche ich Dir nicht erzählen, oder?). Das heißt: Es braucht Euch doch nicht verwundern, dass die Parteien, die Euch momentan unterstützen, die AfD und die NPD sind?! Für die funktioniert das ganz gut, den Hass auf Israel und die Amis zu lenken. Die sind gegen "raumfremde" Kriege. Und denen gefällt das autoritäre Gehabe von Putin, besonders seine Homophobie, ausgezeichnet. - Dieser Ruf: Wir sind das Volk (finde ich falsch, es gibt immer ein oben und unten, Beherrschte und Herrschende, die sind nicht eins; an der Machtverteilung will zumindest ich etwas ändern, weil sich sonst nichts ändert, weder in der BRD noch weltweit!) gaukelt eine falsche Identität vor, ein Kollektiv, das es nicht gibt. Und wenn Du mich noch fragst, wo die Reichsbürger bei Euch sind, denk an den letzten Montag oder schau in Euer Forum.
So, das waren also die drei zentralen Punkte unserer Kritik. Die haben wir auch beim ersten Mal thematisiert. Deshalb kann ich kein Teil dieser Bewegung werden, weil ich niemals wieder mit Elsässer was zu tun haben möchte […], nicht mit Mährholz, im übrigen auch nicht mit Ken Jebsen, auch nicht mit den Reichsbürgern, nicht den Klima-Kritikern oder sonstigen aus dem eso-faschistischen Umfeld. Ich bin Teil der Friedensbewegung, solange ich denken kann. Aber das ist und bleibt eine Friedensbewegung ohne Antisemiten und Faschisten. Wer die mitnehmen will, hat mich nicht auf seiner Seite, da muss ich außen vor bleiben, so schlimm das gerade in der gegenwärtigen Lage ist. Aber es bleibt dabei: Ich möchte Leute für die Sache des Friedens gewinnen, und zwar langfristig. Sonst würde ich nie und nimmer so einen langen Brief schreiben, wie den hier. Allein daran siehst Du hoffentlich, wie ernst es mir ist.
Noch zwei Dinge: Auf den Mahnwachen, in den Foren wird immer von "Lügenmedien" geredet. - Ja, es stimmt, da werden viele falsche Informationen verbreitet. Aber schau Dir mal an, wie sich bspw. die Berichterstattung zur Ukraine gedreht hat, wie viele kritische Stimmen es mittlerweile gibt. Ja, es gibt eine Medienindustrie, eine bestimmte Richtung, nämlich die der Herrschenden, ist die Regel. Aber es gibt viele Journalisten, die sich redlich um Aufklärung bemühen. Es gibt überall, ob bei Spiegel, bei der FAZ oder wo auch immer, wieder Perlen aufklärerischen Journalismus'. Und aus persönlicher Erfahrung weiß ich: Einige Freunde von mir sind bspw. bei der tagesschau gelandet, auch beim Spiegel. Die sind gut, bringen dort ihre Kritik ein, versuchen dort etwas zu verändern. Sie dringen nicht immer durch, aber eben doch manchmal. So, wie jeder an seinem Platz versucht, die Gesellschaft ein klein wenig zu verändern. Also bitte, es bringt nichts, alles über einen Kamm zu scheren. Genauso, wie ich bei KenFM, Compact, Nuoviso und wie sie alle heißen, solchen hanebüchenen Blödsinn finde, dass es auf keine Kuhhaut geht. Es kommt doch darauf an, sich weiterzubilden, kritisch zu hinterfragen. Und das sollte man überall, ob es nun die Mainstream-Medien sind oder andere.
Und dann Parteien und diese Hetze gegen Parteien, Du glaubst gar nicht, wie sehr mich das nervt. Dass ich irgendwie gekauft sei, hat eine bei Euch vermutet. Dann bin ich, das war letzten Montag eine andere Stimme, nur ein Parteimensch, kein Individuum. Geht es noch? Ganz ehrlich, wie wäre es damit, einen Menschen erst einmal als Menschen zu sehen UND seine Positionen sich anzuschauen? Weißt Du, warum ich in der Partei bin? Weil ich ein Mensch bin, der eine bestimmte, friedenspolitische, sozialistische, antimiltaristische Position hat. Weil ich denke, dass ich das in der LINKEN am besten mit meinen Genoss_innen umsetzen kann. Und soll ich Dir was verraten: Da gibt es auch A...löcher, Idioten, Intriganten, wie in der gesamten Gesellschaft. Aber die Ziele stimmen in den wesentlichen Punkten, die Praxis auch, zumindest meistens! Ein ganz konkretes Beispiel: Du hast doch mitbekommen, dass die Diäten der MdBs um 10 Prozent angehoben werden. Weißt Du, was unsere Partei macht, hast Du es gelesen? Alle Abgeordneten spenden die Erhöhung, und das Geld geht gesammelt an unterschiedliche Einrichtung, die es eher brauchen. Die erste Marge jetzt bspw. an die SOS Kinderdörfer. Das heißt für mich Glaubwürdigkeit. Und wer ist die einzige Friedenspartei im Bundestag? Wer setzt im Ukraine-Konflikt auf Deeskalation?
Ja, die politischen Parteien, die politische Klasse sind in der gegenwärtigen Form ein Problem. Es braucht eine radikale Demokratisierung, damit nicht die ganze Demokratie, die ganze Gesellschaft vor die Hunde geht. Aber weißt Du, was für mich die ideale politische Partei ist? Eine Partei, die sich als Sprachrohr der Bewegungen sieht, die im Parlament Anfragen stellt, um Informationen auch den Bewegungen zur Verfügung zu stellen. Und die im Parlament klare Friedens- und soziale Positionen vertritt. Und was hat DIE LINKE gemacht? Woher hat man z.B. Kenntnis über die desaströsen Ausmaße des europäischen Drohnenprogramms? Wer vertritt öffentlich, im Bundestag immer wieder und beharrlich die Positionen der Friedensbewegung? Deshalb halte ich es für fatal, zu sagen, alle Parteien seien gleich. Sie sind es einfach nicht, und wenn ich die Wahl habe, dann gebe ich der Partei die Stimme, die vielleicht nicht alle meine Positionen, aber doch die zentralen Positionen vertritt! Wenn ich nicht wähle, dann stärke ich damit die Parteien, die ich am wenigsten will, die meinen Interessen vollkommen widersprechen. Da freuen sich nur die anderen, die davon profitieren, dass alles so mistig bleibt, wie es ist. Das heißt auch, es gibt kein unpolitisches Verhalten, keine unpolitischen Reden. Alles, was man sagt und tut, geschieht in Bezug auf die Gesellschaft. Und auch wenn man sich enthält, ist man politisch. Beispiel ist die letzte Bundestagswahl. Wo meinst Du, wo war die Wahlenthaltung am größten? In Gaarden und Mettenhof. Und wo war die Wahlbeteiligung am größten? In Düsternbrook. Welche Parteien davon wie profitiert haben, kannst Du Dir denken, oder? Den Herrschenden nützen Wahlenthaltungen. Den Schwachen schaden sie.
So, das war ein großer Sermon, und ich habe es mir echt nicht leicht gemacht, das siehst Du ja auch an der Zeit. Aber wenn mir etwas wichtig ist, gebe ich mir eben Mühe ;-) Ich teile Deine Ansicht, wir müssen die Leute erreichen, die sich von der Gesellschaft, von den Parteien, von den Medien längst abgewandt haben. Die Linken, die antifa, die Friedensbewegung haben darauf keine ausreichenden Antworten. Ich befürchte, es besteht die Gefahr einer zunehmend von gesellschaftlichen Debatten abgehängten Schicht innerhalb der Bevölkerung. Im schlimmsten Fall ist diese irgendwann mobilisierbar für schlimme, reaktionäre Zwecke, die wir uns noch nicht vorstellen können. Das will ich verhindern. Deshalb bin ich nächsten Montag wieder da. Deshalb habe ich Dir diesen Brief geschrieben.
Ich weiß, das ist lang geworden, nimm Dir also Zeit. Lies alles in Ruhe. Und frag mich, wenn Du weitere Infos brauchst, wenn Du Fragen hast.
Mit freundlichen Grüßen
Lorenz Gösta Beutin
Kiel, 15. Mai 2014