Geboren bist Du in Czernowitz, wie Paul Celan. Paul und Du, Ihr seid verwandt, habt zusammen gesungen, gelacht, wie Ihr später die Verzweiflung, das Leid teilen solltet. Dein Vater ist früh gestorben, doch Dein Großvater, Deine Mutter, auch ihr neuer Mann förderten Dich, wo sie konnten. Du bist nicht groß, hast dunkle, braune Augen, fast schwarzes, lockiges Haar, das sich nicht fügen will. Und fügen willst auch Du Dich nicht, trägst Kleidung, die Dir gefällt, passt Dich keinem Zwang an, lachst viel und ernsthaft, liebst Dein Leben.
In der zionistischen Jugendbewegung hast Du Dich mit den Ideen des Sozialismus auseinandergesetzt, der Kibbuzbewegung, die in Israel ihre Vorstellungen von einem Leben, frei von Konkurrenz, von Ausbeutung, der Solidarität verpflichtet, umsetzen wollte. Ihr habt gemeinsam diskutiert, Sport getrieben, gelesen. Hier hast Du angefangen, die ersten Gedichte zu schreiben, musstest Deiner Inspiration, Deiner Lebensfreude, Deinem Schmerz Ausdruck verleihen.
Leijser hast Du dort getroffen. Ihr habt Euch geliebt, tief und innig. Gemeinsam habt Ihr Brecht gelesen, habt gelernt, dass wer nicht kämpft, schon verloren hat, wusstet, dass Ihr um Eure Pläne, Eure Zukunft kämpfen würdet. Habt auch Heine gelesen, den Du vorher schon kanntest. Das Himmelreich auf Erden schon errichten, Zuckererbsen für jedermann, das war es, was Ihr wolltet, und einen Teil daran, für Euch. Und dann Freud, der Euch sagte, was Ihr längst ahntet, dass Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, dass die Träume Verarbeitungen des Unbewussten sind.
Kafka schließlich, seine verwobenen Wege, die Geschichten, die mit ihrer unwirklichen Wirklichkeit so vieles, was um Euch herum, in Euch vor sich ging, beschrieben. Ihr habt die Kunstreiterin in der Manege gesehen, gehofft, dass der Galeriebesucher sein „Halt“ ruft, daran gelitten, wie er weint, ohne es zu wissen, da es nicht so ist. Vielleicht habt Ihr gemeinsam auch die kaiserliche Botschaft gelesen, die Sätze auf Euch wirken lassen, den letzten besonders, der das Sehnen beschreibt, dass auch Dich zum Schreiben gezwungen hat.
57 Gedichte hast Du verfasst, erst unbedrängt, später im Getto. In ihnen erzählst Du vom Leben, Deinen Gefühlen, Ängsten. Du bist die Nacht, willst mit Deinem Sein Schatten werfen über den Mond, willst heiser, atemlos, aber glücklich leben. Für Dich ist die Literatur, ist das Dichten wie die Liebe. Sie verzehrt Dich, lässt Dich kaum atmen, sie sprudelt wie ein Wildbach, ist heiß und doch glasklar, ist leuchtendes, glühendes, rauschendes Leben.
Wenn ich Deine Texte lese, kommen mir Tränen, nicht nur, weil sie das wenige und unsagbar Kostbare sind, was Du hinterlassen hast, auch wegen Deiner Bilder, die Du für Deine Gefühle findest, die mich treffen, der ich um Ausdruck ringe. Auf Rügen bin ich Dir das erste Mal begegnet, bei einer Tagung, musste Dich näher kennenlernen. Als ich diese Zeilen aus dem „Poem“ hörte, konnte ich meine Trauer, mein Empfinden nicht mehr zähmen:
„Ich möchte leben
Ich möchte lachen und Lasten heben
Und möchte kämpfen und lieben und hassen
Und möchte den Himmel mit Händen fassen
Und möchte frei sein und atmen und schrein
Ich will nicht sterben. Nein!
Nein.
Das Leben ist rot.
Das Leben ist mein
Mein und dein
Mein.“
Du hast Deine Gedichte in einem Büchlein niedergeschrieben. „Blütenlese“ hast Du es genannt, es Deinem Leijser gewidmet, den Du da schon verloren, aus Deiner Nähe verloren hattest, der zur Zwangsarbeit verschleppt worden war, nach dem Du Dich in Deinen Träumen sehntest, „ewig nach Dir“. Als Du deportiert werden solltest, ins Konzentrationslager, gabst Du den Band einer Freundin, schriebst noch unter das letzte, unfertige Gedicht in roter Farbe die Worte, die wahr sind, im doppelten Sinne: „Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu schreiben.“
Wer im Lager nicht mehr arbeiten konnte, krank wurde, den ermordeten sie. Du bekamst Typhus, doch die Solidarität in Euren Reihen war groß, Du wurdest nicht gemeldet, konntest sterben, ohne dass sich die Hände Deiner Mörder um Deinen Hals legten. Der letzte Brief von Dir, der hinaus geschmuggelt wurde, endet mit der Mahnung „Chasak!“ (Sei stark!). Du warst es, und durftest trotzdem nicht leben, deswegen.
Leijser bekam Deine Gedichte noch, hat sie sicher gelesen, immer und immer wieder gelesen. Als er beschloss zu fliehen, hat er sie Deiner Freundin zurückgegeben. So sind sie uns erhalten geblieben. Eretz Israel hat er nie erreicht. Die letzte Zeile des Gedichtes, das Du ans Ende Deiner Zusammenstellung gesetzt hast, lautet: „dass man wie Rauch ins Nichts verfließt.“
Jetzt sitze ich hier, muss Dir diese Zeilen schreiben, als könntest Du sie lesen. Du wurdest nur 18 Jahre alt, hattest noch viel zu sagen, Deine Mörder haben es nicht zugelassen, dass zu Dir das Glück zurückkommt. Für mich ist Deine Geschichte, sind Deine Gedichte Verpflichtung, gegen die zu kämpfen, die sich in die Tradition Deiner Mörder stellen. Sind Verpflichtung, für ein Leben ohne Zwänge zu kämpfen, innere und äußere, für eine Gesellschaft, in der es jedem möglich ist, sein Sehnen, seine Gefühle, seine Liebe hinauszuschreien, ohne Bedrängung, nur weil es so! gut ist. Deine Gedichte leben; durch sie Du; Du wirst nicht vergessen! – Deinem „Nie und nie.“ stelle ich mein „Immer und immer.“ zur Seite.
Selma Meerbaum-Eisinger, 1924-1942.