Auschwitz

Haare… Haare… bis zur Decke, tonnenweise. Krücken und Prothesen. Kinderschuhe, kaum abzuschätzen, wie viel tausend. Brillen, meist runde, der Mode der Zeit folgend, ein Gewirr von Gläsern und Bügeln. Koffer, von einer Erika Hecht, einem Georg Wiener, vom „Waisenkind Hanna Minska“ und so vielen anderen. Säuberlich beschriftet mit Namen, Nummer und Geburtsdatum. In einem anderen Raum Bürsten, Pinsel und Cremes aus allen Ländern Europas. Und schließlich Schüsseln, Kannen, Becher, mitgebracht,

in der Hoffnung, sie in der versprochenen neuen Heimat gebrauchen zu können. Es schnürt mir die Kehle zu, presst mir die Tränen in die Augen. Auschwitz, dieser Name steht für das deutsche Menschheitsverbrechen. Und war für mich doch seltsam schemenhaft bis jetzt. Industrielle Massenvernichtung, ein technischer Begriff. Doch dahinter stehen Schicksale, Menschen. Leben, die nicht mehr gelebt werden durften. Körper, die bis ins Letzte verwertet wurden. Das Grauen wird hier fühlbar. Ein Faustschlag in die Magengrube, der mich bis ins Innerste erschüttert.

 

Mein Mitarbeiter Ben und ich haben entschieden, den Weltklimagipfel zu nutzen, einen Abstecher nach Auschwitz zu machen. Wir waren beide noch nicht da. Auf dem Bahnhof in Katowice, vor dem Einstieg in den Zug nach Oswiecim, noch schnell ein Soli-Foto für den „Klimastreik“ von Schüler*innen an diesem Tag. Im Zug dann rasch die Texte schreiben, für Twitter, Instagram, Facebook. Dann höre ich es: tok-tok-tok, während die alte Lok die grau-weiße Landschaft durchpflügt. Wir werden beide still, hängen unseren Gedanken nach.

 

Im Stammlager „Auschwitz I“ haben wir uns für eine Führung entschieden. Unser Guide, Führerin mag ich sie nicht nennen, eine junge Frau, vielleicht Studentin, leitet uns in kühlem, sachlichem Ton durch das Lager und seine Gebäude. Nur einmal weist sie energisch einen Besucher zurecht, der im Gebäude mit den Hinterlassenschaften der Opfer plötzlich zu telefonieren beginnt: Er soll sofort aufhören oder das Gelände verlassen. Mit Pudelmütze und lila Stiefeln, an denen wir uns manchmal orientieren können, geht unsere Leiterin zügig voran, bleibt selten stehen, einmal, als ich ein Foto mache, verlieren wir sie aus den Augen. In diesem Tempo, dichtgedrängt, durch enge, schmale Gänge zu gehen, verstärkt das Gefühl der Beklemmung. Vor einem der Gebäude erinnert eine Tafel an das Mädchenorchester von Auschwitz. Insassinnen mussten dort für die Ankömmlinge aufspielen. Esther Bejarano war dabei, die überlebt hat und noch heute gegen die neuen Nazis auf die Straße geht, mit der Rapgruppe Microphone Mafia gegen sie ansingt. Bevor wir das Stammlager verlassen: Gaskammer und Krematorium, nicht gesprengt von den Reißaus nehmenden SS-Schergen. Die Gaskammer, fleckige, kalte Wände, Betonboden, unvorstellbar das Leid. Die Verbrennungsöfen im Krematorium, es ist kalt, der Tod ist immer noch in diesem Raum. Ich muss schnell raus. Dort steht ein Galgen, Rudolf Höss wurde hier 1947 aufgeknüpft, der Lagekommandant. Neben Krematorium und Gaskammer, in Sichtweite seines Wohnhauses, in dem er mit seiner Frau und seinen fünf Kindern lebte. Ein normaler Deutscher.

 

Dann schließlich das Vernichtungslager Auschwitz II Birkenau. Ein Bus bringt uns hin, es ist kalt, ein schneidender Wind umweht uns. Hier ist der Ort des millionenfachen Mordes, die Fabrik des Todes, der absolute Gipfel der Barbarei mit den Mitteln der Moderne. Einen „Antisemitismus der Vernunft“ hatte Adolf Hitler gefordert. Gegen den „Radauantisemitismus“, gegen Pogrome wandte er sich. Die Vernichtung sollte rational, ohne Emotionen erfolgen. Mit deutscher Gründlichkeit und Ordnung. Alles dokumentiert, wie ein Uhrwerk. Nur manchmal, da war in den Krematorien kein Platz, auch sie hatten nur eine begrenzte Kapazität. Da musste getan werden, was getan werden musste: Leiche auf Leiche gestapelt und die Leichenberge in Brand gesetzt. Das Eingangstor zu Auschwitz-Birkenau ist klein, kleiner, als ich es aus Filmen kenne. Hindurch führen die Schienen, bis zur Rampe, bis zu den Gaskammern und Krematorien. Es ist unwirklich hier. Das Stammlager besteht aus hohen Gebäuden aus Stein, hier reiht sich eine Baracke an die nächste, soweit sie noch stehen, von anderen ist nur der Heizofen stehengeblieben. Die Baracken sind undicht, überall pfeift der Wind durch. Eine Baracke enthält die sanitären Anlagen, die Toiletten, eine neben der anderen, in langen Reihen.

 

Wir gehen den Weg der Häftlinge. Der große Teil von ihnen, zuerst die Alten und Schwachen, die Frauen und Kinder, wurden gleich in die Gaskammern geführt. Die Gaskammern und Krematorien sind gesprengt worden, nur die Ruinen davon sind erhalten. Die Nazis wollten ihre Spuren verwischen. Ein Krematorium wurde schon am 7. Oktober 1944 in die Luft gejagt. Von Mitgliedern des Sonderkommandos, den Häftlingen, die als Sklaven in der Mordmaschinerie die zu Ermordenden in die Gaskammern führten, die Toten aus den Gaskammern holten. Es war der einzige Aufstand in Auschwitz, er wurde niedergeschlagen, die 451 Beteiligten sofort ermordet. Auf dem Rückweg kommen Ben und ich noch an einer besonderen Baracke vorbei. Hier wurden neugeborene Babys und ihre Mütter von Ärzten und Krankenschwestern mit Phenol zu Tode gespritzt.

 

Was wir gesehen haben, geht über das hinaus, was der menschliche Verstand zu fassen vermag. Diese Bilder werde ich nicht wieder aus dem Kopf bekommen. Um es zu verarbeiten, schreibe ich diesen Text. Und weil ich deutlich machen will: Das Grauen ist konkret, es hat stattgefunden, es kann wieder geschehen. Vielleicht nicht so, vielleicht anders. Das immer wieder uns zu vergegenwärtigen, diese Verantwortung anzunehmen, dass sich Auschwitz nicht wiederhole, ist für mich die absolute Maxime. Es heißt, jedem Menschenhass entgegenzutreten, jede Relativierung zurückzuweisen und an der „Welt des Friedens und der Freiheit“ zu wirken, niemals nachzulassen. Das gilt besonders für uns, die Nachgeborenen, im Land der Täter, das die Täter schonte.