
Notizen aus dem Raumschiff V: Ernüchterung. Oder: Mein erstes Mal bei einer Bundestagssitzung
Über eine Woche ist es nun her, seit ich bei der konstituierenden Sitzung des Bundestags war. Meine Notizen, die ich am 24. Oktober begonnen habe, führe ich jetzt zu Ende: Ein wenig aufgeregt war ich ja schon, mein erstes Mal bei einer Sitzung des Bundestags, als neu
gewählter Abgeordneter. Einen Stuhl mit Tisch konnte ich nicht ergattern, das ist ein wenig so wie mit den Handtüchern auf Mallorca. Um mich herum, vor mir, hinter mir die Abgeordneten unserer Fraktion, ein Drittel von ihnen neu wie ich. Vor dem Beginn der Sitzung haben wir an der Kundgebung des Bündnisses „Aufstehen gegen Rassismus“ teilgenommen, als einzige Fraktion. Dietmar Bartsch hat ein Grußwort gehalten, deutlich gemacht, dass wir es nicht hinnehmen, dass Rassismus zur Normalität wird, weder im Bundestag noch in der Gesellschaft. Da passt es irgendwie, dass mir gegenüber, auf dem rechten Flügel, die AfD hockt, eine überwiegend männliche Fraktion: vorne Gauland, breit, gesättigt, und Weidel, wie immer etwas überheblich in die Gegend schauend. Ja, sie sind demokratisch gewählt, ja sie sind Ausdruck des gesellschaftlichen Rechtsrucks. Aber gerade deshalb müssen wir gegenhalten, Alternativen aufzeigen.
Die Drohung des Alterspräsidenten Solms
Vor uns am Rednerpult steht jetzt Hermann Otto Solms, der als Alterspräsident des Bundestags die Sitzung eröffnet. Er ist nach Schäuble, der abgelehnt hat, weil er als Bundestagspräsident kandidiert, der dienstälteste Abgeordnete. Die Fraktionen des letzten Bundestags hatten die Geschäftsordnung, die vorsah, dass der älteste Abgeordnete die Sitzung eröffnet, entsprechend verändert, um zu verhindern, dass einem Abgeordneten der AfD diese Aufgabe zufällt. Ich zweifle etwas, ob es hilfreich ist, durch Geschäftsordnungstricks der Herausforderung von rechts zu begegnen… Jedenfalls hält Solms eine fahrige Rede, unstrukturiert, etwas wirr, feiert den Wiedereinzug der FDP, so dass seine Bemerkung, nun wollten sie der „liberalen Stimme im Deutschen Bundestag wieder Gehör verschaffen“, als die Drohung wahrgenommen wird, die sie für alle sozial denkenden und handelnden Menschen in diesem Land ist. Entsprechend spärlich fällt der Beifall angesichts dieser desaströsen Rede aus.
Das große "Mimimi"
Carsten Schneider, der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, will da offensichtlich anknüpfen: Er stellt die Behauptung auf, Merkels Politikstil sei ein Grund für den Rechtsruck. Nun gibt es sicher viel an Merkel zu kritisieren, an der Politik der vergangenen Jahre. Aber so zu tun, als sei die SPD mit ihrer anti-sozialen Politik nicht zumindest gleichermaßen verantwortlich, ist absurd. Es folgt der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Baumann, der noch einmal auf den Geschäftsordnungstrick bezüglich des Alterspräsidenten verweist. In bewährter Manier sich zum Opfer stilisierend, meint er, gegen seine Partei sei vorgegangen worden wie einst Göring 1933 gegen Clara Zetkin. Dass das nicht stimmt, dass Zetkin 1932 als Alterspräsidentin den Reichstag eröffnete, geschenkt. Historische Fakten sind für die Rechtsradikalen nur Instrumente, die nach Lust und Laune verbogen werden. Eine Wohltat ist, dass nach dieser Rede Jan Korte für unsere Fraktion zu Wort kommt und etwas geschichtliches Fundament in die Debatte bringt: Er verweist darauf, dass das Grundgesetz „die humane und demokratische Antwort auf die Verheerung und die Leichenberge des NS-Faschismus gewesen ist. Das gilt es jeden Tag zu verteidigen.“ Ja, das wird eine zentrale Aufgabe für uns Linke werden, im Parlament, in der Gesellschaft. Eine Herausforderung wird es ebenso sein, solchen Niederträchtigkeiten aus Reihen der FDP zu begegnen, deren Redner in seinem Beitrag unterschiedslos die „extreme Rechte und die extreme Linke“ in einen Topf wirft. Nein, die FDP hat als Partei des ungezügelten Marktradikalismus zurecht den Platz neben der AfD zugewiesen bekommen.
Grün heißt Bauchweh haben
Schließlich kommt noch eine Frau Haßelmann von den Grünen zu Wort. In weinerlichem Ton trägt sie vor, dass die Anträge zur Demokratisierung der Geschäftsordnung, die LINKE und SPD vorgelegt haben, im Prinzip nicht schlecht, aber nicht weitreichend genug seien und ja nur die Grünen vorführen sollten. Unserem Antrag, die im Grundgesetz-Artikel 45 vorgesehenen vier Ausschüsse einzusetzen und nicht die Regierungsbildung abzuwarten, begegnet sie mit der aus ihrer Sicht schlüssigen Frage, warum es denn nun ausgerechnet diese vier Ausschüsse sein sollten. Sich vor einer Rede über die Grundlagen von Anträgen zu informieren, ist offensichtlich ein zu hoch gesteckter Anspruch. Entsprechend stimmen CDU, FDP und Grüne in trauter Einigkeit die vorliegenden Anträge allesamt weg. Einigen Abgeordneten der Grünen allerdings scheint dies nicht leichtzufallen. Das meine ich jedenfalls an ihren Gesichtern abzulesen.
Wenn Schäuble wüsste, was Schäuble weiß...
Und sonst? Wolfgang Schäuble hält als neuer Bundestagspräsident eine Rede mit historischen und philosophischen Bezügen, bezieht sich u.a. positiv auf den Kategorischen Imperativ Kants. Sicherlich an diesem Tag die geschichtgesättigste Rede, und wenn man den Kontext wegließe, nicht einmal schlecht. Angesichts der Verheerungen der deutschen Austeritätspolitik, der drakonischen Sozialabbau- und Privatisierungspolitik wünschte man sich dennoch, Schäuble hätte sich früher einmal auf diese klugen Gedanken Kants besonnen. Petra Pau wird als Vizepräsidentin in der Folge mit 60 Stimmen mehr als Oppermann von der SPD gewählt, eine Anerkennung ihrer beharrlichen, sachorientierten Arbeit. Hier setzt sich fort, dass Oppermann bereits in seiner Fraktion ohne Gegenkandidat lediglich 61 Prozent der Stimmen erhalten hatten. Ein Zeichen für einen Wandel bei der SPD ist jedenfalls seine Nominierung nicht. Albrecht Glaser von der AfD fällt sodann in drei Wahlgängen durch – es ist demokratischen Abgeordneten nicht zu vermitteln, warum sie jemanden wählen sollten, der mit der „Religionsfreiheit“ einen zentralen Eckpfeiler des Grundgesetzes ablehnt. Mir jedenfalls ist das nicht zu vermitteln. Die Rechtsradikalen werden das „Wir-sind-alle-so-arme-Opfer“-Spiel aber voraussichtlich bei kommenden Sitzungen aufführen. Bleibt zu hoffen, dass vom ewigen „Mimimi“ irgendwann auch der letzte vermeintliche „Protestwähler“ die Ohren voll hat.
Wi(e)der die parlamentarische Illusion
Was bleibt: Eine ernüchternde erste Sitzung des Bundestags, die sich hingezogen hat, die viel Sitzfleisch erforderte, aber in der Gewissheit, mit Genossinnen und Genossen zusammenzusitzen, die ebenso wie ich zum großen Teil die parlamentarischen Abläufe kritisch betrachten, nicht der parlamentarischen Illusion erliegen. Und die Pflicht, dies immer wieder zu reflektieren, bei den Sitzungen, die da folgen. Das in den Mittelpunkt zu stellen, was auch vorher mein Engagement ausmachte: Aktionen und Demonstrationen, Beteiligung an Bündnissen für eine ganze andere Gesellschaft, für eine Demokratisierung der Verhältnisse. Nein, es wird nicht leicht, aber wir sind auf dem Weg.